Can I get an Amen? Gabriels live in Berlin


"I'm gonna take you to Michigan Baptist Church!" - kündigt Sänger Jacob Lusk nach der Hymne "Love and Hate in Different Times" an. Doch seine Predigt ist kurz, wir sollen uns mit dem Nachbarn verbünden und: "If you really love somebody - tell it to them every day!". Can I Get An Amen: Die Gabriels besuchten Berlin.

Was kann eigentlich Musik? Balsam sein für den zerschundenen Geist und Körper nach zermürbenden Tagwerk oder temporäre Freiheit bieten vor dem strengen Blick der Gesellschaft? Letzte Nahrung spenden für eine diffuse Hoffnung auf eine bessere Welt oder Quelle von Kraft und Euphorie sein, um intellektuelle und emotionale Grenzen zu überschreiten zu können? Oder einfach nur: glücklich machen? Doch was ist, wenn eine Combo alle Kästchen ankreuzt?

Musikalische Geschichtsstunde 

Die alte Geschichte, wie Pop und Soul aus dem Gospel kam, stellte selten jemand so überwältigend und mitreissend dar, wie die Künstler heute abend im Columbia Theater. Der Dance-Beat ihrer "Hits" wird nur akzentuiert eingesetzt und wirkt dadurch umso treibender. Hier dominiert der getragene Gesang begleitet von Piano und Violine. Denn es geht um Schmerz - von Liebe und Zurückweisung, Enttäuschung und Ungerechtigkeit. Die Songtitel sind eindeutig: "Bloodlines", "Blame", "The Blind" oder "Innocence". Und die Texte auch: "Not a slave if I'm already free Not a captive if it's where I want to be". Darum reichen hier eben nicht, aufeinandergelegte Spuren, Soundbanken und Clicktracks für die kleine, un-leidenschaftliche Seelenmassage - hier wird richtig durchgewalkt.

Gabriels - als ob ein heutiger Billy(!) Holiday auf dem Weg zum Musikkonservatorium in die Paradise Garage stolpert.

The Angels surely wanna wear his red shoes

Doch es hätte auch anders kommen können: Sänger und Frontman Jacob Lusk war vor elf Jahren Teilnehmer der American Idol Staffel und interpretierte bekannte Songs von Marvin Gaye, Michael Jackson, und Elton John (heute einer der größten Fans). Es reicht ein Blick auf die damaligen Pressephotos um zu sehen: Eine Musicalkarriere in der zweiten Reihe wäre sicher. Das war offensichtlich zu wenig. Wer hier nun wen überzeugte, ist nicht belegt. Aber mit den Soundtrack-Produzenten und Arrangeure Ari Balouzian und Ryan Hope wird hier ganz woanders angeknüpft als an die 80er-Oldie-Show für Boomer.

Daher verlassen sie sich auch nicht ausschließlich auf die außergewöhnliche Stimme Jacobs, sondern konzentrieren sich auch auf die Noten und Worte. Das Ergebnis ist keine Unterhaltung in heutiger, eher pragmatischen, Erwartung - ganz im Gegenteil. Einige Songs sind fast zu langsam, um innerhalb der aktuellen Aufmerksamkeitsspanne wahrgenommen werden zu können. Sie nehmen sich einfach die Zeit, die sie brauchen. Daher muss der Hörer/ die Hörerin die nötige Aufmerksamkeit aufzubringen, um das gesamte Bild zu entdecken. Denn um die Musik der Gabriels zu verstehen, muss verlangt etwas ab.

Wer es vorzieht, weniger fesselnde Musik zu hören, sollte lieber bei "seiner" zusammengestellten Playlist auf Spotify bleiben oder die Erlösung im Smartphone suchen. Wir ziehen es vor, in den mit Arrangement von Ari und Ryan zu schwelgen, die ein warmes, wohliges Habitat bieten in dem sich Jacobs Stimme frei entfalten kann. 

Can It all be so simple then?

Auf der Bühne steht er regungslos, fast majestätisch im Rampenlicht. Nur die Arme und die Mimik bewegen sich kontrolliert. Bis zum Zeitpunkt, an dem der Song anstimmt, der die Gabriels auf die musikalische Landkarte packte: "Love And Hate In A Different Time". Wie besessen von Rhythmus und Message tanzt er plötzlich und dreht sich dabei um die eigene Achse. Sehr zum Vergnügen der ca. 140 Besucher:innen in Berlin. Einige singen sogar mit, wahrscheinlich, weil der Song ab und zu in den Radios der Hauptstadt gespielt wird. Ein Luxus, von dem wir in Hamburg nur träumen können - aber ich schweife ab.

So wirkt es im Nachhinein doch geplant, dass kurz vor ihrem Auftritt Marvins "What's Going On" durch den Saal schwebt. Und es ist ein göttliches gigantisches Zeichen, dass die drei dahinter nicht verblassen. Die Gabriels bringen uns zum Tanzen, singen, weinen und lachen - alles zur selben Zeit. Wer bereit ist, seine Frequenz auf die Band einzustellen, erlebt die beste Show, die es im Augenblick gibt.

"Can It all be so simple then?", fragt Jacob am Ende. Und wir können auf diese geborgten Zeilen aus  "The Way We Were" nur antworten: Yes it is!

 

 

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